In 100 Jahren zur Leichtathletik-Hochburg: der VfL Sindelfingen
  16.12.2020 •     WLV , Top-News WLV , BW-Leichtathletik , Top-News BW-Leichtathletik


Der VfL Sindelfingen ist in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden, die Feier fiel Corona zum Opfer. Der Verein hat in seiner Geschichte viel erlebt: sportliche Höhenflüge und organisatorische Glanzleistungen. Ein Streifzug durch die Geschichte des Vereins.

Angefangen hat es 1920 ganz bescheiden: da mussten die Leichtathleten im schwäbischen Sindelfingen im Winter zuerst die Turnhalle mit Holz und Kohle heizen, im Sommer die Wiese draußen mit der Sense mähen. Aus dem Sportplatz wurde 1972 das Floschenstadion mit der vierten Kunststoffbahn in Württemberg, aus der Turnhalle mit dem Glaspalast 1977 die modernste deutsche Leichtathletikhalle mit der ersten festinstallierten Kunststoffbahn in der Bunderepublik. In den letzten 100 Jahren hat sich der VfL Sindelfingen zu einem der ganz großen Vereine der deutschen Leichtathletik entwickelt.

111 Deutsche Meistertitel, allein 56 bei den Aktiven, wurden von Athleten im weiß-blauen VfL-Trikot geholt. Neben den sportlichen Erfolgen hat Sindelfingen mit der Ausrichtung von insgesamt 27 Deutschen Meisterschaften eine organisatorische Glanzleistung zustande gebracht und ein Alleinstellungsmerkmal in der deutschen Leichtathletik.

Topathleten und Top-Veranstaltungen

„Das war immer unsere Philosophie“, sagt Dieter Locher, seit Mitte der neunziger Jahre als Veranstaltungsleiter in Sindelfingen und in der württembergischen Leichtathletik für kleine und große Veranstaltungen zuständig, „neben Topathleten in Sindelfingen auch Top-Veranstaltungen anzubieten“. Die Motoren der Sindelfinger Leichtathletik waren Otto Welker, Hans Jooß und Dieter Gauger. Welker war 28 Jahre lang als VfL-Abteilungsleiter der Wegbereiter der modernen Leichtathletik in der Mercedes-Stadt. Er war als Schatzmeister im DLV (von 1990 bis 2001) auch national aktiv. Jooß leistete im Veranstaltungsbereich Kärntnerarbeit: Er war 1993 bei der WM in Stuttgart Teil des Organisationsteams. Gauger prägte die Abteilung 15 Jahre lang und erlebte 1987 das sportlich erfolgreichste Jahr der VfL-Leichtathleten mit 11 DM-Titeln. Nur acht Abteilungsleiter in 100 Jahren stehen für personelle und  organisatorische Kontinuität.

Die Liste bekannter Sindelfinger ist lang, ihre Erfolgsserie ist beeindruckend. Neun Athleten nahmen an Olympischen Spielen teil:

Heidi-Elke Gaugel 4x400m Staffel, Bronze, 1984 Los Angeles
Martin Weppler, 4x400m, 5./ZL, 1984 Los Angeles
Jörg Vaihinger 4x400m-Staffel, Bronze, 1988 Seoul,1992 Barcelona
Ulrike Sarvari 4x100m-Staffel, Platz 4, 100m/5. im Halbfinale, 1988 Seoul
Andrea Thomas 4x100m Staffel, 4.Platz, 4x400m 4. Platz, 1992 Barcelona: 4x100m 5. Platz, 200m /Halbfinale
Stephanie Kampf, Teilnehmerin 400m Hürden, 2004 Athen
Birgit Hamann(Wolf), Teilnehmerin 100m Hürden (5./ZL), 1992 Atlanta
Nadine Hildebrand, 100m Hürden (HF), 2016 Rio de Janeiro
Tobias Dahm, Teilnehmer Kugelstoßen (VK), 2016 Rio de Janeiro
Werner Späth, Bundestrainer 4x100m-Staffel, 1988 Seoul

Sprinthochburg Sindelfingen

Der VfL Sindelfingen machte sich vor allem als Sprinterhochburg einen Namen. Maßgeblichen Anteil haben Daran Heidi-Elke Gaugel und Ulrike Sarvari. Sie dominierten in den 80er Jahren den Frauensprint im DLV. Gaugel (17) und Sarvari (18) sammelten zusammen 35 Deutsche Meistertitel über 60, 100, 200 und 4x100 Meter. Mit Olympiabronze 1984 in Los Angeles und EM-Silber (4x400m) 1986 in Stuttgart war Heidi-Elke Gaugel die erfolgreichste VfL-Athletin der Vereinsgeschichte. Mit Gaugel, Sarvari, Andrea Thomas und Birgit Wolf standen 1987 vier Olympiateilnehmerinnen in der Deutschen Meister-Staffel des VfL – ziemlich einmalig in der deutschen Leichtathletik. 

VfL als zweite Heimat

„Der VfL war meine zweite Heimat, hier bin ich aufgewachsen und mit meinem Trainer Werner Späth durch dick und dünn gegangen“, sagt die inzwischen 61-jährige Bankangestellte im Rückblick, „der VfL hat mir alle Voraussetzungen für meine sportliche Karriere geboten“.  

Ulrike Sarvari krönte ihre Karriere mit der Olympiateilnahme in Seoul, wo das westdeutsche Quartett nur um ein Hunderstel die Bronzemedaille  verpasste, und bei den Hallen-Europameisterschaften 1990 in Glasgow, als sie Doppel-Europameisterin über 60 und 200 Meter wurde. „Der VfL Sindelfingen war immer ein Großverein mit familiären Strukturen und Bindungen, in der Werner Späth als Trainer ein unheimlich empathischer Trainer war und eine geschätzte Vertrauensperson“, sagt die 56-jährige Kunstlehrerin an einer Gemeinschaftsschule.

Meistermacher Späth

Immer wieder taucht der Name des Trainers Werner Späth auf, wenn es um Qualität und Erfolge in Sindelfingen geht. Über 50 Jahre ist der Meistermacher im VfL engagiert und hat es bis heute geschafft, zahlreiche  Athleten in die nationale oder internationale Spitze zu bringen. Späth schrieb bei den Weiß-Blauen eine Erfolgsgeschichte. Auch Athletinnen wie Birgit Hamann (früher Wolf), Stephanie Kampf und Nadine Hildebrand führte er zu den Olympischen Spielen. Der Bogen spannt sich bis 2019 und 2020, wo Späth-Schützling  Carolina Krafzyk über 400 Hürden Hürden zweimal Deutsche Meisterin wurde und Tokio im Blick hat.  

„Ich habe in diesem Verein viele Beziehungen und Unterstützung erfahren“, betont Nadine Hildebrand, fünffache Deutsche Meisterin und aktuell Aktivensprecherin im DLV-Präsidium ihre Wertschätzung für den schwäbischen Verein. Sie habe in dieser Zeit im Leistungssport so viele Fähigkeiten vermittelt bekommen, die für sie noch heute als Juristin von Bedeutung sind.

Glaspalast ein Meilenstein: Hallen-EM und Hallen-WM

Der Bau des Glaspalasts 1977 war für die Weiterentwicklung der Sindelfinger Leichtathletik ein Meilenstein. „Diese tolle Halle gab uns einen großen Aufschwung, sowohl sportlich als auch im organisatorischen Bereich“ sagt Dieter Locher. Der VfL brachte 1978 und 2005 das Kunststück fertig, binnen einer Woche im Glaspalast die Deutschen Jugend- und Aktivenmeisterschaften auszurichten – eine Meisterleistung. Neben unermüdlichem Einsatz war hierfür ein großes ehrenamtliches Potenzial erforderlich. Darunter waren viele ehemalige Aktive, die auf diese Weise dem Verein etwas zurückgeben wollten.

Glanz brachte die Hallen-EM 1980 im Glaspalast. Der inzwischen verstorbene, altehrwürdige Leichtathletik-Redakteur Heinz Vogel schrieb in seinem Kommentar damals: „In der herrlichen Sindelfinger Halle wurde zwei Tage Leichtathletik zelebriert … Für die Leichtathletik ist der Werbeeffekt dieser Hallen-EM nicht hoch genug einzuschätzen“. Die Senioren-Weltmeisterschaften 2004 im Glaspalast mit 2600 Teilnehmern aus 56 Ländern wurden ein olympisches Ereignis, das bis heute nachwirkt.

Weil er DLV aus Marketinggründen inzwischen sechs Rundenbahn für die nationalen Titelkämpfe fordert, war Sindelfingen mit den vier Rundbahnen aus dem Rennen, nur Leipzig und Dortmund erfüllen diese Vorgabe.  

Sieben Weltrekorde beim IHS, Jackson für die Ewigkeit

Sportliche Erfolge, organisatorische Highlights – und dann kam 1979 mit dem Internationalen Hallensportfest (IHS) ein Sahnehäubchen in den Prachtbau Glaspalast dazu. Meetingmacher Herbert Bohr, der heute als Grandseigneur der Sindelfinger Leichtathletik gilt, gelang es, Leichtathletik auf Weltniveau zu präsentieren. Sieben Weltrekorde wurden beim IHS erzielt: Thomas Schönlebe lief den bis heute gültigen deutschen Rekord mit 45,05 Sek., Rekordjäger Haile Gebrselassie erzielte beim IHS sein ersten Hallen-Weltrekord über 5000 Meter (13:10,98), Sprint-Diva Merlene Ottey  zog die Augen der Zuschauer nicht nur wegen ihres 200 Meter-Weltrekords (22,24) auf sich. 1994 lief Weltmeister Colin Jackson mit 7,30 Sek. einen „Weltrekord für die Ewigkeit“, der bis heute in den Annalen steht. Am Ende der 24. Auflage betrug der Etat 500000 Euro. „Der Terminkalender gab am Ende nichts mehr her für uns und wir haben die IHS-Geschichte 2003 beendet“, erinnert Bohr mit Wehmut an diese glanzvolle Zeit. Als 1988 Dopingbetrüger Ben Johnson im Glaspalast auflief, war die Halle mit 4500 Zuschauern proppenvoll.

Noch heute lacht man in Sindelfingen verschmitzt darüber, dass der große Sergej Bubka für lächerliche 2000 Mark beim IHS startete. Der Grund: Bubka wurde eigentlich nach Stuttgart für den Sparkassencup verpflichtet, eine Trainingseinheit führte den Überflieger in den Glaspalast und ins IHS.

Die Deutsche Hürdenmeisterin Birgit Hamann leistet mit ihrer 2000 gegründeten Talentschule „Speedy“, in der sie mit ihren Trainern derzeit 180 Kinder und Schüler betreut, qualifizierte Basisarbeit im Nachwuchsbereich.

Seien Zukunftsfähigkeit bewies der VfL mit Paul Specht als deutscher Jugend-Hallenmeister über 3000 Meter und die U20-Junorinnen Kim Bödi, Antonia Greb und Mia Jurenka mit dem Gewinn des Mannschafts-Titels bei der Cross-DM.    Nach den bescheidenen Anfängen auf der Wiese ist der VfL Sindelfingen Anfang 2020 bei der Cross-DM wieder ins Freibad und damit ins „Grüne“ zurückgegangen.


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