Erdteilkampf in Stuttgart: kein Tag wie jeder andere

  18.03.2021    WLV Top-News WLV 70 Jahre WLV
70 Jahre WLV - heute blicken wir über 50 Jahre zurück in der Geschichte des Württembergischen Leichtathletik-Verbandes. Am 30. und 31. Juli 1969 trafen sich die besten Athleten aus Europa und Amerika zum "Erdteilkampf" im Stuttgarter Neckarstadion: die Amerikaner in rotem Trikot; die Europäer im weißen.

Bemerkenswert zu damaliger Zeit inmitten des kalten Kriegs: In der europäischen Mannschaft waren Sportler aus Ost und West gemeinsam vertreten, auch aus beiden Teilen Deutschlands. Die meisten Autogramme musste Weitspringer Bob Beamon geben, der ein Jahr zuvor bei den Olympischen Spielen von Mexiko sagenhafte 8,90 Meter gesprungen war. Seine Autogramme in Stuttgart zeichnete er denn auch mit "Bob Beamon 8,90". Am Ende hatten die Europäer die Nase vorn. Rechnet man alle Wettkämpfe zusammen, siegten die Europäer gegen die Amerikaner mit 194 zu 151 Punkten.

Für den Württembergischen Leichtathletik-Verband war die Ausrichtung des Erdteilkampfs ein großer Schritt nach vorne. Der Ruf als perfekter Organisator von bedeutenden Leichtathletikereignissen eilte den Schwaben nun weltweit voraus. Diese Veranstaltung brachte die Mitarbeiter*innen des Verbandes – damals noch fast ohne hauptamtliche Strukturen – aber an die Grenzen der Belastbarkeit. Die Berichte der maßgeblichen Organisatoren im WLV-Jahrbuch 1969, einige können am Ende dieses Textes nachgelesen werden, legen davon eindrucksvoll Zeugnis ab. Dr. Günther Currle, damals Pressewart des WLV, stöhnte: „Jetzt weiß ich, dass die schlichte Bezeichnung Pressewart etwas mit „pressen“ zu tun haben muss: „Ausgequetscht wie eine saftlos gepresste Zitrone ließen mich die Erdteil-Kampftage zurück, das schicke Wort vom Erdteilkampfgeschädigten fällt mir ein. Nie wieder Erdteilkampf – ein Schwur, den man leicht halten kann, denn in die Verlegenheit werden wir nicht mehr kommen, oder?

Auch für die Landeshauptstadt Stuttgart war der Erdteilkampf ein Meilenstein auf dem Weg zur „Sporthauptstadt“. Das aus dieser und anderen Veranstaltungen gewonnene Renommee der Neckar-Metropole legte den Grundstein für die erfolgreichen Bewerbungen um spätere Veranstaltungen wie die Leichtathletik-EM 1986 und die WM 1993.  Die Ausrichtung des Erdteilkampfes hat sich die Stadt allerdings auch etwas kosten lassen. 1,4 Millionen D-Mark kostete die neue Kunststoff-Laufbahn der Marke Tartan, die erste Kunststoffbahn in der Bundesrepublik überhaupt, und eine weitere Million wurde in eine Flutlichtanlage investiert, die auch Farbfernseh-Übertragungen zuließ. Damit war das Neckarstadion so gut aufgestellt, dass man den Mitbewerber Augsburg im Bewerbungsverfahren klar hinter sich lassen konnte.

In den beiden Teams standen Athletinnen und Athleten aus 21 Ländern Europas und Amerikas. Die USA stellten wegen ihres überragenden Standards das Gros der amerikanischen Athleten, die unter der Bezeichnung "Western Hemisphere" antraten; nur ein paar Repräsentanten kamen aus Kanada, Mexiko und Jamaika. Im europäischen Team standen Vertreter aus insgesamt 17 Ländern.

Der Erdteilkampf war die größte Leichtathletik-Veranstaltung in Deutschland seit den Olympischen Spielen in Berlin 1936. Der Sport stand jedoch (schon oder gerade damals) nicht immer im Mittelpunkt. Die Politik spielte im Vorfeld eine große Rolle. So gab es um die Teilnahme der Athleten aus den Staaten des Ostblocks ein langes hin und her. Die Sowjetunion boykottierte letztendlich in der letzten Woche den Stuttgarter Erdteilkampf, weitere Länder des Ostblocks wie Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien versammelten sich jedoch hinter der Europafahne. Auch die DDR, die zunächst Terminschwierigkeiten vorschützte, beteiligte sich schließlich im Bewusstsein, mit 13 Sportlern den größten Mannschaftsteil zu stellen, obwohl sie in Stuttgart ihre Fahne nicht hissen durfte. Dafür war es den Vertretern der DDR als einzigen vorbehalten, nicht im weißen Trikot mit der Aufschrift „Europe“, sondern in Blau mit großen, weißen DDR-Buchstaben anzutreten. Die Bundesrepublik wartete mit acht Athleten, samt und sonders Läufer, sowie zwei Athletinnen auf.

Bewegte Bilder von diesem Ereignis findet man in Form der Wochenschau „Die Zeit unter der Lupe 1019/1969“ vom 5. August 1969 in der Filmothek des Bundesarchivs (Beginn bei 4:10 Minuten)

 

Unschöne Szenen gab es aus politischen Gründen auch. Die „Zeit“ berichtet darüber wie folgt: Als „Republikflüchtling“ Jürgen May im 5.000 Meter-Lauf gegen den Knirps Lindgren im Spurt unterlag, sprang sein ehemaliger Kamerad Jürgen Haase, der 10.000 Meter-Sieger, vor Freude in die Höhe. Dabei hatte er sich damals bei den Europameisterschaften in Budapest des gleichen "Verbrechens" wie May, von einer westdeutschen Sportschuhfabrik eine größere Summe anzunehmen, schuldig gemacht. Aber Haase streute Asche aufs Haupt und bereute "mea maxima culpa", er erhielt Vergebung, während der nicht linientreue May in Acht und Bann getan wurde, so dass ihm nur die Flucht in die Bundesrepublik blieb. Europameister Jürgen Haase musste schon im 10.000 Meter-Lauf ein Pfeifkonzert quittieren, weil er den Belgier Roelants in den letzten Runden nicht mehr bei der Führungsarbeit unterstützte. Vorher war Haase von dem kritischen, aber objektiven Publikum noch lautstark angefeuert worden.

Auch 1969 bereits ein vieldiskutiertes Thema: die fernsehgerechte Aufbereitung solcher Top-Events. Auch dazu sei an dieser Stelle aus der „Zeit“ zitiert: „Das Programm wurde fernsehgerecht geschneidert, was für den Besucher im Stadion bedeutete, dass es jeweils auf knappe zwei Stunden zusammengepresst wurde. Eine Konkurrenz jagte die andere – keine Verschnaufpause, keinen Augenblick der Besinnung. Oft waren drei oder vier Übungen gleichzeitig im Gange. Für die Fernsehkameras war dies ein gefundenes Fressen, aber selbst für den fachkundigen Zuschauer im Stadion war es eine einzige Überforderung. Die Teleobjektive vermögen selbst ein verräterisches Zucken der mimischen Muskulatur eines nervösen Athleten wahrzunehmen, der Mann im Stadion aber sitzt oft 100 Meter und weiter vom Brennpunkt des Geschehens entfernt. Wer sich als Veranstalter im Sport dem Fernsehen verschreibt, kann nicht nur eine beträchtliche Summe wohlgefällig einstreichen, um seinen Etat auszugleichen, sondern er muss sich auch gefallen lassen, dass der Geldgeber mehr oder weniger gebieterisch detaillierte Forderungen stellt.“

Aus sportlicher Sicht war der Erdteilkampf ein voller Erfolg für das europäische Team. Im Stuttgarter Neckarstadion siegten die europäischen Leichtathleten über die Amerikaner. Die Männer gewannen mit 113 zu 97 Punkten, die Frauen gar mit 81 zu 54 Punkten. Manche waren mit der Erklärung dieses überraschenden Erfolges der Vertreter des Alten Kontinents schnell bei der Hand. Die Amerikaner, seit der Mondlandung mit dem Nimbus der Unbesiegbarkeit umgeben, hätten, so hieß es, nur die zweite Garnitur, zumindest aber eine sehr schwache Mannschaft geschickt. Zwar fehlten einige der US-Stars wie die Olympiasieger Willie Davenport (110 Meter Hürden), Bob Seagren (Stabhochsprung) und Al Oerter (Diskuswurf) und Weitsprung-Weltrekordler Bob Beamon wurde im Neckarstadion mit für ihn indiskutablen 7,75 Meter nur Letzter, aber schwach war das amerikanische Team deshalb noch lange nicht. Der Sieg der Europäer lag nicht an der Schwäche der Amerikaner, sondern an der eigenen Stärke. Verschenkten sie doch noch Punkte dadurch, dass ausgerechnet die beiden bundesdeutschen Sprinter Wucherer und Eigenherr den Staffelstab fallen ließen.

Die bundesdeutschen Teilnehmer zeigten sich vor 35.000 Zuschauern am ersten Wettkampftag und 45.000 Zuschauern am zweiten in unterschiedlicher Verfassung. Gerhard Hennige siegte über 400 Meter Hürden in 50,0 Sekunden gegen den favorisierten Olympiazweiten von Mexico, Ralph Mann (ebenfalls 50,0 Sekunden). Europameister Bodo Tümmler konnte über 1.500 Meter nicht um die Sieg mitkämpfen und wurde in 3:39,3 Minuten Dritter. Dieselbe Platzierung holte Gerhard Wucherer in 10,4 Sekunden über 100 Meter, Günther Nickel wurde Zweiter über 110 Meter Hürden in 13,5 Sekunden genauso wie Jürgen May in 13:40,8 Minuten über 5.000 Meter, während Jochen Eigenherr über 200 Meter über Platz vier in 20,8 Sekunden nicht hinauskam. Einen überlegenen Sieg gab es im Diskuswurf der Frauen durch Liesel Westermann mit 62,16 Meter. Wesentlich knapper ging es im Weitsprung der Frauen zu; am Ende setzte sich aber Heide Rosendahl (6,48 Meter) mit zwei Zentimetern Vorsprung durch.


Lesen Sie hier persönliche Berichte zum Erdteilkampf aus dem WLV-Jahrbuch 1969


Zur besseren Einordnung hier einige politische und gesellschaftliche Ereignisse aus dem Jahr 1969:

9. Februar
Das bisher größte Verkehrsflugzeug, die Boeing 747 „Jumbo Jet“, mit der 385 Passagiere befördert werden können, absolviert seinen ersten Versuchsflug.

13. Februar
In München findet die erste Herztransplantation in der Bundesrepublik statt.

24. Mai
Zwei Tage vor Ablauf der Bundesligasaison steht der FC Bayern München als Deutscher Fußballmeister fest.

21. Juli
Mondlandung: Der US-Amerikaner Neil Armstrong setzt als erster Mensch den Fuß auf die Mondoberfläche

12. August
Der Konflikt in Nordirland eskaliert. Anlässlich einer protestantischen Parade kommt es in Londonderry zu Straßenschlachten zwischen Protestanten und Katholiken. Die Unruhen breiten sich in den folgenden Tagen auf weitere Städte aus.

17. August
Im US-Staat New York geht das Woodstock-Festival zu Ende. Zu dem dreitägigen Open-Air-Konzert waren zwischen 400.000 und 500.000 Rockfans erschienen. Trotz Regen, fehlender sanitärer Einrichtungen und Mangel an Nahrungsmitteln wird das Konzert zu einem großen Erfolg und zum Inbegriff der "Flower-Power-Bewegung".

1. September
Nach einer vom Bundestag verabschiedeten Strafrechtsreform werden ab dem 1. September Ehebruch und Homosexualität straffrei.

28. September
Wahlen zum 6. Deutschen Bundestag. Die CDU/CSU erhalten 46,1 Prozent, die SPD 42,7 Prozent und die FDP 5,8 Prozent der Stimmen. Am 21. Oktober wird Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt.

8. November
Der erste Forschungssatellit der Bundesrepublik "Azur" wird in die Erdumlaufbahn gebracht.

Entnommen aus:
Zündorf, Irmgard/Wagner, Claudia: Jahreschronik 1969, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

 

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